halbe gespräche
Auffallend häufig erlebte ich jüngst in der S-Bahn die halben Gespräche von Mitpassagieren, die sich über ihre Handys lange und laut mit weiß Gott wem unterhielten. Zunächst fühlte ich mich beim Lesen gestört und spielte schon mit dem Gedanken, diese Leute zu ermahnen, sich zum Handy-Quatschen doch bitte in irgendeine möglichst wenig bevölkerte Ecke zurückzuziehen, um die von ihnen ausgehende Belästigung zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren. Aber dann dachte ich an meine Maxime, statt mich zu ärgern, besser das Beste aus dem Schlechten zu machen. Und ich begann, diese Sätze, Antworten und halbierten Dialoge als eine Art geistigen Striptease zu empfinden, als freimütig gewährten Einblick in ein völlig fremdes Leben, Denken und Fühlen. Die Persönlichkeiten schienen sich hier deutlich schneller und entschlossener zu entblättern als durch ihre Physiognomie oder ihren Gang.
Ich versuchte, die jeweiligen Äußerungen des telefonischen Gegenübers zu erraten und zu ergänzen. Als dann sowohl zu meiner Linken als auch zu meiner Rechten solch ein halbes Gespräch ertönte, stellte ich mir vor, die beiden - eine Frau und ein Mann - redeten miteinander, was stellenweise erstaunlich gut paßte. Es war eine ungewöhnlich amüsante S-Bahn-Fahrt. Als ich aussteigen mußte, war ich fast versucht, mich mit Dank und Handschlag von den Akteuren zu verabschieden.